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Landkreis Uelzen

Berlin-Tagebuch unserer FDP-Bundestagsabgeordneten Anja Schulz (9): Bewegende Wort zum Gedenken an den Massenmord des Dritten Reichs

 |  Landkreis

Hallo Uelzen,

die vergangene Woche war die bisher Bewegenste in dieser Legislaturperiode. Gleich zwei sehr schwierige Themen standen auf der Tagesordnung.

Zuerst war da die Orientierungsdebatte rund um das Thema einer Allgemeinen Impfpflicht. Bei wichtigen, medizinisch-ethischen Fragen diskutiert der Bundestag oft anders als gewöhnlich. Debatten, die so persönlich und emotional sind, in denen es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben, Tod und Moral geht, können einfach nicht nach den gleichen Spielregeln von Parteien und Fraktionen geführt werden.

Deswegen sind die Abgeordneten in diesen Debatten völlig frei. Auch darin parteiübergreifend Anträge zu formulieren. Allgemein gelten diese offenen Orientierungsdebatten als Sternstunden des Parlaments. Zuletzt gab es diese zu den Diskussionen über Organspenden und Sterbehilfe. Wer die Zeit hat, sollte sich einmal eine dieser Debatten anschauen und man wird schnell begreifen, wovon ich spreche.

Auch in diesem Fall wurde die Diskussion auf einem sehr hohen Niveau geführt und war bis auf wenige verbale Totalausfälle und Pöbeleien der AfD eine wirkliche Bereicherung mit vielen, interessanten Argumenten, die mir noch einmal gute auch neue Impulse für meine Entscheidung geben konnten.

Das aktuelle Ergebnis sind dabei drei Anträge, die parteiübergreifend formuliert wurden. Eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren, eine Beratungspflicht für alle volljährigen Umgeimpften mit einer gestaffelten Impfpflicht ab 50 und eine Ablehnung einer Impfpflicht.

Für mich persönlich sind einfach noch zu viele Fragen offen, um mich abschließend entscheiden zu können. Wie entwickelt sich die Pandemie unter Omikron weiter, wie wird eine eventuelle Pflicht durchgesetzt, mutiert das Virus erneut und die alten Impfungen schützen nicht mehr? Klar ist, dass ich nicht für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren stimmen werde. In der Tendenz gefällt mir der Antrag, zu einem verpflichtenden Beratungsgespräch für alle volljährigen bisher Ungeimpften und ggf. einer Impfpflicht ab 50 Jahren, von meinem Parteifreund Andrew Ullmann. Denn ein Beratungsgespräch erachte ich als durchaus verhältnismäßig und glaube dabei an die Kraft der Überzeugung. Druck und Pflicht können oft unschöne Trotzreaktionen hervorrufen. Das sollten wir vermeiden. Ich setze auf Freiwilligkeit, denn es sind beileibe nicht alle, die noch nicht geimpft sind, überzeugte Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker. Außerdem ist auch nicht jeder, der in diesem oder einem anderen Thema unsere Meinung nicht teilt sofort ein schlechter Menschen. Oft haben wir alle unsere ganz persönlichen Gründe und Erfahrungen, die uns so ticken lassen, wie wir ticken. Das sollten wir wieder öfter respektieren. Wenn wir durch die Freiwilligkeit die Impfquote deutlich erhöhen könnten, wäre auch eine Verpflichtung ab dem 50. Lebensjahr nicht mehr notwendig. Die Bedingungen dazu werden im Antrag noch genau ausgearbeitet. Bis dahin werde ich noch keine abschließende Entscheidung treffen. Denn eins hat uns die Pandemie in den letzten zwei Jahren sehr deutlich gezeigt: Es ist erforderlich sich immer wieder an neuen Erkenntnissen zu orientieren und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen.

Das zweite, bei weitem gewichtigere Thema war der 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Zu diesem Anlass wurde im Plenarsaal des Bundestages eine Gedenkveranstaltung abgehalten.

In einer bewegenden Rede hat die Holocaustüberlebende Inge Auerbach deutlich gemacht was für erschütternde Einzelschicksale hinter der Massenmordmaschinerie des dritten Reiches stehen und standen. Wir vergessen bei der Dimension des Verbrechens leider viel zu schnell, dass dieses Menschheitsverbrechen ein Mosaik des Grauens ist, das aus Millionen von einzelnen Menschen bestand, die alle ihr ganz persönliches Verderben erlebt haben.

Daran zu erinnern ist deswegen so eine wichtige Aufgabe, da in diesem Jahrzehnt wahrscheinlich die letzten Zeitzeugen aus der Welt entschwinden werden. Gerade bei jungen Menschen wird immer häufiger mangelndes Wissen über die Geschehnisse im Holocaust beobachtet. Alarmierend dabei ist, dass nach einer Umfrage inzwischen jeder dritte, junge Deutsche antisemitische Tendenzen aufweist.

Oft hört man auch Argumente wie „was hat das denn mit mir zu tun, das ist 70 Jahre her, ich habe doch keine Schuld daran“. Natürlich trägt niemand heute Schuld für das, was im Holocaust geschehen ist. Die Frage der Erinnerung ist keine Frage von Schuld, es ist eine Frage der Verantwortung und Menschenwürde, der wir alle verpflichtet sind.

Denn der Holocaust entstand nicht aus dem Nichts und nicht im luftleeren Raum. Das was den Weg zum Massenmord geebnet hat, war jahrelange Vorarbeit. Es begann mit dem Aufhetzen und Aufwiegeln gegen eine Minderheit, ging damit weiter den Juden das Menschsein abzusprechen und führte dadurch zwangsläufig zu Gewalt. Gewalt, die staatlich institutionalisiert wurde und seinen Höhepunkt in den Gaskammern von Auschwitz fand.

Darauf achtzugeben und zu erinnern, dass so etwas nie wieder Geschehen darf ist deshalb nie eine Frage von Schuld. Darauf achtzugeben, dass Menschen in unserem Land nie wieder entmenschlicht, geschlagen, ausgeraubt, gefoltert und geplant ermordet werden und dass wir jeder Tendenz, die auch nur im Ansatz den Weg in diese Richtung beschreitet, entschlossen entgegentreten, ist für mich eine Frage der Menschlichkeit.

Dazu gehört für mich auch aufzustehen, wenn die menschlichen Einzelschicksale und Tragödien, die der Holocaust hervorgerufen hat, verharmlost und ins Lächerliche gezogen werden, indem man sich beispielsweise als Impfgegner oder Ungeimpfter mit den Opfern der Shoah vergleicht.

Allein sich damit auseinandersetzen zu müssen, diesen Unterschied zu erklären fühlt sich einfach nur groteskt an.

Niemand, der ungeimpft ist muss darum fürchten, dass sein privates Eigentum zerstört oder gestohlen wird, dass man ihn auf offener Straße attackieren, seine Geschäfte beschädigen, seine Ehe wegen Rassenvermischung zwangsaufgelöst wird. Das er immer wieder in Haft kommt, dort verprügelt und gefoltert wird, dass man ihn deportiert, zur Arbeit zwingt, erschießt, erschlägt, verhungern lässt oder vergast.

Jeder, der diesem Trugbild anhängt sollte sich fragen, ob er wirklich vor eine Person wie Inge Auerbach treten könnte, nachdem er ihre Geschichte gehört hat und ihr sagen könnte „wir haben das gleiche erlebt“.

Das waren jetzt zwei sehr schwere und emotionale Themen. Das ist mir bewusst. Aber vielleicht nehmen Sie ja ein paar Gedanken mit in die Woche.

Wir hören uns bald wieder.