Skip to main content

„Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen in den Ruin getrieben werden“

  • Subtitle: Wrestedt/Landkreis

Wrestedt. Wrestedt macht einen großen Schritt voran und schafft auf Betreiben der SPD/Grünen-Gruppe im Rat der Gemeinde die Straßenausbausatzungen ab. Bereits 2019 hatte die Gruppe einen ersten Vorstoß gemacht, nun hat sie ihr Ziel erreicht. Mit Folgen, die bis nach Hannover reichen könnten, wie Andreas Dobslaw, Gemeinderatsmitglied und Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion, im Interview ausführt.

Herr Dobslaw, in Wrestedt gibt es künftig keine Straßenausbaubeitragssatzung mehr. Was für Kosten bleiben den Bürgern künftig erspart, was konnte bislang auf Grundstücksbesitzer zukommen?

Andreas Dobslaw: Bislang war es so, dass nach Straßentyp unterschieden wurde. So wurde etwa zwischen einer reinen Anlieger- und einer Durchgangsstraße unterschieden. Daraus ergaben sich dann prozentuale Anteile zwischen 40 und 75 Prozent der reinen Baukosten, abzüglich Zuwendungen durch Dritte, die den Anliegern nach einem Schlüssel in Rechnung gestellt wurden.

Am Beispiel des Bollenser Weges in Wieren ist dies schön darstellbar. Dort müsste der Eigenanteil von etwa 420.000 Euro auf 30 Haushalte verteilt werden, was letztlich zu einer durchschnittlichen Belastung von 14.000 Euro pro Anlieger führen würde. Dass die Opposition in der Ratssitzung von nur 7.000 Euro Belastung sprach, war vermutlich ein Irrtum, der aber berichtigt werden muss. In der Hansestadt Uelzen wurde und wird auch aktuell von Eigenanteilen in Höhe von 50.000 Euro und mehr für Anwohner berichtet. Alles in allem Größenordnungen, die man niemandem mehr zumuten kann.

Durch die neue Regelung gehen der Gemeinde nicht unerhebliche Einnahmen verloren. Wie sieht es mit der Gegenfinanzierung aus? Wie können Kommunen sich im Vorfeld auf anfallende Kosten vorbereiten?

Andreas Dobslaw: Das genau ist aktuell das Problem. Nach dem geltenden Recht dürfen Kommunen zur Zeit keine zweckgebundenen Rücklagen, zum Beispiel für die Sanierung von Straßen, ansparen. Eine strukturierte Vorbereitung auf Maßnahmen, quasi die Anlage eines Sparbuches, ist also bisher nicht möglich. In Wrestedt gehen wir nun einen neuen Weg, der letztlich über eine Selbstverpflichtung der Politik läuft. In einer neuen Richtlinie haben wir festgelegt, dass jährlich eine eigentlich allgemeine Rücklage in einer bestimmten Höhe gebildet und über die Jahre aufsummiert werden soll.

Diese Rücklage soll dem bisherigen Eigenanteil der Anwohner der zu sanierenden Straße entsprechen und erst, wenn die Summe erreicht ist, wird saniert. Die Politik verpflichtet sich dabei dazu, diese Rücklage dann auch für die Sanierung von vorher festgelegten Projekten, aktuell also für den Bollenser Weg in Wieren und danach für den Wietsahlsweg in Wrestedt, zu verwenden. Finanziert wird das Ganze über die moderate Anhebung von Grund- und Gewerbesteuer. Mit einer Mehrbelastung von etwa 9 Euro pro Monat für einen durchschnittlichen Privathaushalt können wir in diesem Jahr die erste Rückstellung bilden und auch das bereits bestehende Haushaltsdefizit der Gemeinde von 300.000 Euro beseitigen. Dazu ist anzumerken, dass sich die Anhebung der Hebesätze in Punkten immer gewaltig anhört und dies von der Opposition auch so dargestellt wird. Ich denke aber, für den Preis einer Schachtel Zigaretten pro Monat für jeden Privathaushalt eine soziale Regelung zu schaffen und damit den kommunalen Haushalt auszugleichen, ist legal und vertretbar. Und letztlich sind auch die Einkommen der Menschen in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir künftig öfter die Hebesätze variabel verändern müssen. Aber genau das ist ja die vom Gesetzgeber vorgesehene Funktion dieser Hebesätze, auch wenn es von der Opposition immer wieder gerne als Schreckgespenst dargestellt wird. Sie dienen letztlich dazu, den gemeindlichen Haushalt mittelfristig ausgeglichen darstellen zu können. Übrigens hat die Gemeinde Wrestedt nach Auskunft der Verwaltung in den zurückliegenden zehn Jahren lediglich eine ausbaupflichtige Maßnahme durchgeführt. Die fälligen Ausbaubeiträge von insgesamt 120.000 Euro nahmen viele Anwohner für juristische Klagen zum Anlass, und auch das wird mit der Neuregelung vermieden. Die Gegner unseres Weges sollten sich einmal überlegen, warum viele Bundesländer diese Regelung bereits per Landesgesetz abgeschafft haben.

Kann man sagen, dass die bisherige Regelung unsozial war?

Andreas Dobslaw: Das war sie auf alle Fälle. Straßen sind Eigentum aller, und alle benutzen sie. Daher kann es nicht sein, dass einzelne Anwohner für Kosten herangezogen werden, für die sie nicht allein verantwortlich sind. Wie so oft werden Steuern pauschal erhoben, und mit dem Ertrag werden verschiedene Dinge zum Wohle aller finanziert. Der von uns nun eingeschlagene Weg stellt nichts anderes dar. Die anfallenden Kosten für Einrichtungen, die allen dienen, werden auf alle umgelegt. Nur so sind die bekannten Preissteigerungen der vergangenen Jahre im Übrigen noch zu bewältigen.

Hat damit auch die preisliche Entwicklung im Tiefbau-Bereich vor allem in den vergangenen zwei Jahren etwas zu tun?

Andreas Dobslaw: Ausdrücklich ja! Von 2018 auf 2019 haben sich die Preise im Tiefbau, also auch im Straßenbau, um etwa 38 Prozent erhöht. Das haben wir im Kreis im Rahmen des Ausbaus des Glasfasernetzes sehr deutlich zu spüren bekommen. In den Folgejahren war die Situation ähnlich. Man kann also guten Gewissens davon ausgehen, dass sich die Tiefbaupreise bis heute bereits verdoppelt haben und noch weiter steigen werden. Der einzelne Anwohner hat im gleichen Zug aber keine solch signifikanten Steigerungen bei Lohn oder Rente.

Welche Gruppen waren besonders stark betroffen? Familien? Senioren? Zum Teil wurden von Gemeinden ja Stundungen angeboten. Warum funktioniert diese Lösung nicht?

Andreas Dobslaw: Vor allem für junge Familien und ältere Menschen funktioniert das nicht. Viele ältere Anwohner haben im Rahmen ihres Arbeitslebens Altersrücklagen geschaffen und über viele Jahre das eigene Heim abbezahlt. Oft unter Verzicht auf viele nette Dinge. Wenn dann im Rentenalter die Gemeinde kommt und fünfstellige Summen für eine vielleicht seit Jahrzehnten verschleppte Sanierung fordert, führt dies zu großen Problemen. Die Alternativen sind Kredite bei einer Bank, die es oft für ältere Menschen nicht gibt. Oder eine Stundung durch die Gemeinde mit entsprechenden Zinsen. Oder eben die Auflösung der Altersrücklagen.

Im Falle des Todes gehen die Forderungen der Bank oder Gemeinde übrigens auf die Erben über, beziehungsweise sie werden im Verkaufspreis des Objektes mit berücksichtigt, was ein altes Haus nicht unbedingt attraktiver macht. Zu den Stundungen durch die Gemeinde bleibt noch anzumerken, dass diese – genau wie die von der Opposition vorgeschlagene Senkung der Anliegerbeiträge – gegebenenfalls durch Steuererhöhungen finanziert werden müssen. Und dies wird auch nicht dadurch besser, dass die Stundungsbeträge auch noch verzinst werden.

Und nun zu den jungen Familien. Wenn diese Familien ein älteres Objekt im Ortskern kaufen und sanieren wollen, ist es doch genau das, was wir wollen. Sie nehmen dann Kredite und Arbeit auf sich, und irgendwann kommt die Kommune und fordert Anliegerbeiträge für eine Straßensanierung, die die jungen Familien überhaupt nicht zu verantworten haben. Und selbst die Stundung führt doch nur zu einem Verschieben der Zahlungspflicht. Sozial und gesellschaftlich vertretbar geht anders. Davon bin ich fest überzeugt.

Welche Auswirkungen versprechen Sie sich von der Abschaffung der Straßenausbausatzung mit Blick auf eine stärkere Belebung der Ortskerne, vor allem durch junge Familien?

Andreas Dobslaw: Wir wollen als Gesellschaft die Leerstände in Ortskernen vermeiden, also junge Familien in die Mitte der Orte holen. Wenn wir dies dadurch verhindern, dass wir sie beispielsweise für Versäumnisse der Kommune, die ihre Straßen eben nicht unterhalten hat, nun in die Verantwortung nehmen, dann müssen wir uns von dem Ziel der Ortskernbelebung verabschieden. Dass kann niemand wirklich wollen.

Sie sind Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion. Wollen Sie es mit der Neuregelung bei Wrestedt belassen? Wollen Sie das Thema auch auf andere Ebenen heben?

Andreas Dobslaw: Wrestedt ist für mich nur der Beginn. Diese Diskussion muss weitergehen bis hinauf auf die Landesebene. Wir haben hier in Abstimmung mit Gemeindeverwaltung und Kommunalaufsicht einen Weg beschritten der, um es klar zu sagen, die derzeit beste aller zur Verfügung stehenden schlechten Alternativen darstellt. Eine wirklich gute Alternative gibt es eben zur Zeit nicht. Ich bedaure ausdrücklich, dass sich die Landesregierung bisher nicht zu einer wirklich guten Lösung durchgerungen hat. Andere Bundesländer sind da deutlich weiter.

Was fehlt ist mindestens die Option, dass wir zum Erhalt der Infrastruktur als Kommune zweckgebundene Rücklagen, also quasi Sparbücher, im Ergebnishaushalt, anlegen dürfen. Mit diesen Rücklagen wären dann die Kosten für Sanierungen und so weiter rechtssicher abbildbar. Es kann doch nicht sein, dass wir, wie im Finanzhaushalt abgebildet, 1 Million in bar liegen haben und damit liquide sind, der Ergebnishaushalt aber von der Kommunalaufsicht beanstandet oder nicht genehmigt wird, weil wir die vorhandenen liquiden Mittel des Finanzhaushaltes dort nicht zum Ausgleich verwenden können. Von der Kommunalaufsicht wird nur der Ergebnishaushalt geprüft, und er muss mittelfristig ausgeglichen sein. Und genau da liegt der Fehler. Haushaltsrecht ist eben nicht mit einer Schlagzeile zu erklären.

In der nächsten Wahlperiode muss es daher Aufgabe des Kreistages, und nicht nur des Kreistages, sondern auch der zuständigen Landtagsabgeordneten sein, das Problem erneut nach Hannover zu tragen und die Verantwortlichen dort in die Pflicht zu nehmen. Das ist jedenfalls eines meiner Ziele für die nächste Wahlperiode. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen, die sich ihr Haus vom Mund abgespart haben oder die sich gerade eine Existenz mit Eigentum aufbauen wollen, auf diesem Weg in den Ruin getrieben werden. Und wir müssen alles daran setzen, dass die Belebung der Ortskerne gelingt. Dies ist sowohl ökonomisch als auch ökologisch absolut notwendig.

Foto (privat): Andreas Dobslaw