Göhrde-Morde: Ermittlungen auch nach 30 Jahren noch in vollem Gange
- Subtitle: Blaulicht
Von Michael Michalzik
Himbergen/Lüneburg. Es ist der 21. Mai 1989, ein schöner Frühsommertag. Ursula und Peter Reinold haben sich aus Hamburg-Bergedorf auf den Weg in die nahe Göhrde gemacht, um auf einer Waldlichtung die Sonne zu genießen. Was das Ehepaar nicht ahnen kann, als es mit seinem Honda Civic sein Ziel erreicht: In dem riesigen Waldgebiet östlich von Himbergen lauert der Tod.
Mitte Juli – fast acht Wochen sind vergangen, seit das Ehepaar Reinold spurlos verschwunden ist. Der Sommer ist inzwischen trocken und heiß, es hat wochenlang nicht mehr geregnet. Trotzdem machen sich drei Blaubeer-Sammler auf den Weg in den Göhrde-Wald. Doch was sie finden, lässt sie erstarren. In einer Senke entdecken sie zwei Leichen. Nackt, ermordet, regelrecht hingerichtet. Die Reinolds.
Ihre Körper sind zum großen Teil von Tieren gefressen worden. Was von den Toten übrig ist, ist durch die Hitze mumifiziert. Schnell versuchen die Beerensammler, einen Förster zu finden, um die Polizei zu benachrichtigen. Dabei begegnen sie mitten im Wald einem kräftigen, braunhaarigen Mann. Er trägt eine Stofftasche bei sich. Vermutlich, hält die Polizei fest, war es der Mann, der das Ehepaar Reinold am 21. Mai ermordet hatte – unterwegs auf der Suche nach neuen Opfern.
Und der Unbekannte schlägt tatsächlich erneut in der Göhrde zu – genau an dem Tag, an dem die Leichen der Reinolds von den Beerensammlern entdeckt werden: Ingrid Warmbier aus Uelzen und Bernd-Michael Köpping aus Hannover, beide sind mit anderen Partnern verheiratet, haben sich in Bad Bevensen bei einer Kur kennengelernt. Den heißen Julitag wollen sie gemeinsam in der Göhrde verbringen. Sie parken Köppings Toyota Tercel und gehen zu Fuß kilometerweit in den Wald. Unklar ist, ob der Unbekannte ihnen auflauerte oder sie ihm zufällig begegneten. Fest steht: Während Kripobeamte nur 800 Meter entfernt den Fundort des toten Ehepaars Reinold untersuchen, wird zeitgleich in einer Senkung die nächste grauenvolle Bluttat begangen.
Warmbier und Köpping haben keine Chance. Der Täter bedroht sie offenbar massiv. Er fesselt sie mit medizinischem Klebeband an Händen und Füßen. Ob es sich auch um eine Sexual-Straftat handelt, ist unklar. Das Pärchen muss sich mit den Gesichtern nach unten auf den Waldboden legen. Der Mann wird vom Täter erst gewürgt, dann mit einer Kleinkaliberwaffe durch Kopfschüsse getötet. Dem weiblichen Opfer wird der Schädel zertrümmert und dann ebenfalls in den Kopf geschossen.
Zwei Wochen später sind wieder Hundertschaften der Polizei in der Göhrde unterwegs, um weitere Spuren im Mordfall Reinold zu suchen. Was sie finden, sind die nächsten beiden Mordopfer. Im Verlauf der kommenden Wochen werden immer mehr schreckliche Details zu den beiden Taten bekannt. Und die Polizei ermittelt fieberhaft. Denn die Beamten gehen davon aus, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hat – der vermutlich einen Komplizen hatte: In beiden Fällen hatte der Täter seinen Opfern Fahrzeugschlüssel abgenommen und war mit den Autos noch mehrere Tage umhergefahren. Eines von ihnen wurde später vor der Kurklinik Bad Bevensen gefunden. Nur: Wenn der Täter mit den Autos aus der Göhrde weggefahren war – wie kam er dann dort hin? Es drängt sich der Gedanke an einen Mittäter auf, der vermutlich bis heute frei herumläuft.
Das ist der Grund, warum die Ermittlungen bis heute nicht abgeschlossen sind – mehr als 30 Jahre nach den Göhrde-Morden: Erst im März dieses Jahres wurde die temporäre „Ermittlungsgruppe Göhrde“ der Polizeidirektion Lüneburg zur Organisationsstruktur des Sachgebietes Cold Case zugeordnet, wie Mathias Fossenberger von der Pressestelle der Polizeidirektion auf Anfrage der Uelzener Nachrichten mitteilt: „Die Ermittlungen in den Göhrde-Morden werden nach wie vor mit hohem Engagement betrieben. Sowohl die kriminaltaktische Ausrichtung als auch die Ermittlungstiefe bleiben von der geänderten Bezeichnung unberührt“, so Fossenberger. Als Tatverdächtiger werde der bereits verstorbene Kurt-Werner Wichmann betrachtet.
Wichmann, geboren 1949 im Landkreis Lüneburg, war schon als Jugendlicher wegen Sexual- und Gewalttaten verurteilt worden. 1968 wurde eine Frau in Lüneburg erschossen. Zeugen sahen einen Jugendlichen davonlaufen, auf den die Beschreibung Wichmanns passte. Er wurde aber nicht belangt. 1970 vergewaltigte er eine Anhalterin und wurde zu fünfeinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Als er mehrere Jahre mit einer deutlich älteren Frau in Karlsruhe zusammenwohnte, wurden dort in der Zeit mehrere Frauen ermordet, die Fälle sind bis heute nicht aufgeklärt. Wichmann galt im Bekanntenkreis als eitel und unnahbar. Er trug stets, auch im Sommer, lange Ledermäntel und Handschuhe. Blonde Föhnfrisur und Sonnenbrille waren weitere Markenzeichen des Mannes, der vielen Zeugen wegen seines durchdringenden Blicks in Erinnerung blieb.
Dass Wichmann überhaupt zum Verdächtigen im Fall Göhrde-Morde wurde, liegt an einem anderen Fall: Ebenfalls 1989 verschwand die Lüneburger Fotografin Birgit Meier spurlos. Zunächst stand ihr Ex-Mann, ein Unternehmer, unter Verdacht, der mit ihr eine hohe Abfindung für den Fall einer Trennung vereinbart hatte. Als die Polizei den Kreis möglicher Täter eingrenzte, kam auch Wichmann ins Visier, der inzwischen in Lüneburg als Friedhofsgärtner arbeitete. Er konnte sich mehrfach herauslügen. Dass er zum Zeitpunkt des Verschwindens von Birgit Meier krankgeschrieben war und seine Abwesenheit von seiner Arbeit nicht auffallen konnte, fiel damals bei den Ermittlungen nicht auf.
Doch damit war die Sache für Wichmann noch nicht gelaufen: Als 1993 eine neue Staatsanwältin in Lüneburg ihre Arbeit aufnahm, wurden die Ermittlungen im Fall Meier wieder aufgenommen. Und Wichmann stand plötzlich wieder ganz oben auf der Liste der Tatverdächtigen – weil er Birgit Meier bei einer Party kennengelernt hatte und seine Vorstrafen in eine eindeutige Richtung wiesen. Bei einer Durchsuchung seines Hauses am Stadtrand von Lüneburg fanden Ermittler unter anderem Kleinkalibergewehre, Folterwerkzeuge, Beruhigungsmittel und Elektroschocker. In das Haus waren überall geheime Räume und Fächer eingebaut worden. Eine Tür wies eine schalldichte Polsterung auf. Ein Paar Handschellen hatte eine Blutanhaftung.
Wichmann selbst floh vor der Durchsuchung. Eine Polizeistreife verhaftete ihn einige Tage später in Heilbronn, weil er Waffen im Auto hatte. Kurz darauf erhängte er sich in einer Arrestzelle mit seinem Gürtel. Weil gegen Tote nicht ermittelt wird, war der Fall offiziell erledigt. Doch Wolfgang Sielaff, Bruder der Verschwundenen Birgit Meier und inzwischen pensionierter Leiter des LKA Hamburg, gab nicht auf. Er scharte ein Experten-Team um sich und ermittelte auf eigene Faust weiter. Im September 2017 wurde Wichmanns Haus erneut untersucht. Dabei fand Sielaff eine Sammlung von Zeitungsartikeln über die Göhrde-Morde sowie die Aufzeichnung einer entsprechenden XY-Sendung. Eine Sammlung, die dem eitlen und selbstvernarrten Wichmann ähnlich sah. Und dann: In der Garage nahmen Sielaff und sein Team die Werkstatt-Grube unter die Lupe. Sie war verdächtig flach. Bei Grabungen wurde die Leiche Birgit Meiers gefunden. Sie war erschossen worden.
Damit galt der tote Wichmann wieder als Hauptverdächtiger bei den Göhrde-Morden. Mit neuen DNA-Untersuchungsmethoden konnte außerdem ermittelt werden, dass zwei Haare, die seinerzeit in einem Auto eines Göhrde-Mordopfers gefunden worden waren, Wichmann zuzuordnen sind. Die 2017 neu aufgestellte „Ermittlungsgruppe Göhrde“ geht davon aus, dass Kurt-Werner Wichmann und ein noch lebender Mittäter für diese und eine Vielzahl weiterer Morde im gesamten Bundesgebiet als Täter in Frage kommen könnten.
2018 krempelte die Ermittlungsgruppe das Wichmann-Haus sowie das große Grundstück komplett um. Dabei stellte sich heraus, dass Wichmann gerade wie besessen Gegenstände vergraben hatte – unter anderem einen neuwertigen Ford-Sportwagen, in dem nach Einschätzung der Polizei mit großer Wahrscheinlichkeit eine Leiche transportiert wurde. Außerdem wurden Taschen, Säbel, Frauenschuhe, Bekleidung, Autoteile und viele andere Asservate gefunden, insgesamt mehrere hundert.
Polizeisprecher Fossenberger: „Die Ermittlungen richten sich weiterhin auch gegen einen mutmaßlichen noch lebenden Mittäter. Das Verfahren umfasst über 2.000 Spurenakten, zu denen rund 700 neue Ermittlungsspuren hinzugekommen sind.“ Für Wichmanns vermutlichen Komplizen könnte es dank neuer kriminalistischer Möglichkeiten bald eng werden. Fossenberger: „Die akribischen Ermittlungen dauern aktuell an. Unser Ziel ist die vollständige Aufarbeitung des Falles nach aktuellsten kriminalistischen und forensischen Methoden.“
Fotos (Polizei): Bei Ausgrabungen auf dem Grundstück des inzwischen verstorbenen Hauptverdächtigen wurden hunderte von Gegenständen gefunden, unter anderem Autoteile und ein auffälliger Ring.